Stilproben

 

 
 

 

General George Patton fackelte nicht lange. Kaum waren ein paar Tage verstrichen seit der grausigen Entdeckung von tausenden verhungerter, erschlagener und erschossener Gefangenen, erließ er einen rigorosen Befehl: die Weimarer Bevölkerung habe sich auf den Weg nach Buchenwald zu machen. Mit dem Namen Buchenwald verbindet sich die hässliche Fratze des NS -Staates. Hier blickte die Welt nach der Befreiung durch die Amerikaner erstmals voller Entsetzen auf die grausige Folge von zwölf Jahren Nazi-Herrschaft. Hinter dem idyllischen Namen verbirgt sich eines der ersten Arbeitslager des noch jungen NS-Staates, das bereits1937 eingerichtet wurde. Und in dem rund 56 000 Menschen aus 30 Ländern ihr Leben lassen mussten.
Doch das wussten die Weimarer in jenen letzten Kriegstagen noch nicht. Die überwiegend jungen Frauen - ihre Männer waren ja an der Front - machten sich auf den Weg. Wie ein Ausflug wirkte es zunächst. Filme von damals zeigen lachende Gesichter, eine fröhliche Schar junger Menschen. Danach ein Schnitt. Namenloses Entsetzen machte sich auf den Gesichtern breit, als sie an Gräbern vorbeidefilierten. Fassungslosigkeit, Stille.
Vor den Ausflüglern lagen  ausgemergelte Leiber, grotesk verkrümmt im Todeskampf. Zu großen Haufen aufgestapelt, boten sie ein Bild des Grauens. Langsam quälte sich der lange Zug vorbei.
Nun wurde das ganze Grauen offenbar. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, das Land eines unweit von Buchenwald lebenden Goethe, ließ in die Abgründe moralisch verwirrter Geister blicken. Ein Land, das die Tötung von sechs Millionen Juden wie am Fließband organisierte, das sich als Herrenmenschen begriff und andere Völker als minderwertig, lag nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft am Boden. Buchenwald bot erstmals einen wahren Einblick in die Schreckensherrschaft - bei weitem nicht den letzten und nicht den schlimmsten.
Wenn am Freitag Nachmittag der amerikanische Präsident Barack Obama zusammen mit Kanzlerin Merkel von Dresden aus in Buchenwald eintreffen wird, lebt dieser Teil der deutschen und der amerikanischen Geschichte wieder auf. Aus dem Lager mit der zynischen Aufschrift “Jedem das Seine” am Eingangstor ist eine Gedenkstätte geworden. Oben auf dem Berg gelegen, von malerisch Buchenwäldern umgeben, gibt sie einen weiten Blick ins Thüringer Becken frei.
Ein idyllischer Fleck, wüsste man nicht, dass jeder Quadratzentimeter dieses Ortes mit Blut getränkt ist. Der Leiter der Gedenkstätte, Historiker Volkhart Knigge, wird nicht müde das zu betonen.
Den Besuch Obamas begreift er als Ereignis von historischem Rang, ist es doch das erste Mal, dass ein Vertreter der befreienden Nation zu Gast ist. Für Obama ist es noch mehr: immerhin war der Onkel seiner Mutter unmittelbar an der Befreiung des rund 60 Kilometer entfernten  Außenlagers Ohrdruf beteiligt. Die Geschichten, die man darüber in der Familie erzählte, haben den jungen Obama geprägt. Buchenwald ist das für ihn wichtigste Ziel seines Kurzbesuchs in Deutschland.
Zwei Stunden wird er sich Zeit nehmen, um das Lager kennen zu lernen. Wenn er über den weiträumigen Lagerplatz defiliert, wird sich die Welt erinnern. Und Obama wird vielleicht auch die Geschichte jenes “Ausflugs” zu hören bekommen.
Freilich: so recht geholfen hat dieser drastische Versuch der Umerziehung nicht. Die Ausflügler reagierten überwiegend mit Empörung auf diese - vermeintliche - Zumutung. Die ideologische Verblendung von zwölf Jahren ließ sich nicht so leicht abschütteln.
Fünfzig Jahre später hat eine alte Dame dann in einer Fernsehdokumentation doch noch die entscheidenden Worte gesagt. Was sie dort gesehen hat, habe sie für ihr Leben geprägt. Die einstige junge Frau, kaum zwanzig Jahre alt, trug die Bilder des Grauens und ihre Scham darüber zeit ihres Lebens mit sich herum.

In Deutschland musste man mit den Bildern leben lernen. Auch Generationen später gelingt das manchen nur schwer, andere haben sie verdrängt. Durch den Obama-Besuch kommen sie drastisch in Erinnerung zurück.

Der fast private Besuch des amerikanischen Präsidenten hat aber noch eine andere, eine strahlende Seite: denn auch das neue, das schöne Deutschland soll dem Präsidenten, soll der Welt in Erinnerung bleiben. Dafür hat das Berliner Protokoll gesorgt, indem es ihn zunächst nach Dresden einlud. Die neu aufgebaute Frauenkirche, die zauberhafte Innenstadt - auch das soll sich dem Präsidenten und dem Tross von 1500 Journalisten aus 30 Ländern einprägen.

In der Bevölkerung ist die Erwartungsfreude geteilt. So lässt sich in Dresden über die Hälfte der Bevölkerung vom Besuch Obamas nicht beeindrucken und geht ihrem normalen Tagesablauf nach. Das jedenfalls hat die Online-Umfrage einer Boulevardzeitung ergeben.

Auch in Weimar ist die Freude gedämpft. “Für mich ist das Jacke wie Hose”, sagt ein arbeitsloser 44-Jähriger Handwerksmeister. Was sich fünf Kilometer von ihm entfernt auf dem Ettersberg abspielt, ist fernab seines eigenen Lebens. Andere rätseln: kommt er oder kommt er nicht? Sie können es kaum glauben, sollte der Präsident ihre Stadt links liegen lassen. Die Stadt hat sich schließlich herausgeputzt für den Besuch, dass das amerikanische Protokoll nun doch anders entschieden hat, war bis vor wenigen Tagen nicht klar.

Ein geschäftstüchtiger Weimarer Bäcker jammert ganz besonders. Er befürchtet erhebliche Geschäftseinbußen für die eigens produzierten Donuts mit dem Antlitz des Präsidenten.

 

DANIELA EGETEMAYER

Buchenwald-2
Stacheldrahtzaun mit Krematorium

 

Buchenwald-1

 

 

Buchenwald-3